Musikwahrnehmung: Die Suche nach einem größten gemeinsamen Nenner

Einleitung

Der Warteraum setzt sich aus einem großen Spektrum an Menschen aus verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten zusammen, denen allen gleichermaßen mit einer Soundscape geholfen werden soll. Aufgrund der großen Variation an Kulturen in einer Großstadt ist es schwierig, eine gemeinsame Klanglandschaft zu konzipieren, da jede Kultur ihre eigene musikalische Prägung und Vorbildung mitbringt.

Musikkulturelle Unterschiede betreffen Parameter wie Tonsystem (abendländisches Tonsystem, Maqams, indisches Tonsystem), Instrumentierungen, Besetzungen, rhythmische Struktur, Harmonik und Form (z.B. Sonatenhauptsatzform oder eine freie Improvisation).

Gibt es trotz der vielen Unterschiede eine kulturübergreifende Gemeinsamkeit, einen größten gemeinsamen Nenner in der Musik?

Um dieser Fragestellung nachzugehen, werde ich zwei Studien zur kulturübergreifenden Wahrnehmung von Emotionen in der Musik vorstellen und auswerten.

1. Wahrnehmung von Emotionen in Musik

Um mich in diesem weitgefassten Thema der Musikwahrnehmung etwas eingrenzen zu können, liegt der Schwerpunkt der im Folgenden vorgestellten Studien auf der Evokation von Emotionen durch Musik.

Viele Forschungen haben sich, bei der Untersuchung der Verbindung von Musik und Emotionen, hauptsächlich auf die eigene Musikkultur bezogen.

Die folgenden beiden Studien „Recognition of Three Basic Emotions in Music“ und „A Cross-Cultural Investigation of the Perception of Emotion in Music: Psychophysical and Cultural Cues“ untersuchen das kulturübergreifende Erkennen von Emotionen in eigener und fremder Musik. Ziel ist es herauszufinden, ob es einen gemeinsamen Nenner in der Wahrnehmung von Musik gibt und wenn ja, welche Aspekte und Parameter der Musik diesen hervorrufen.

1.1. „Recognition of Three Basic Emotions in Music“

Diese Studie beinhaltet mehrere Versuche, wovon ich zwei näher vorstellen möchte.

Die Versuchsgruppe bestand aus 42 Probanden, davon 20 Deutsche und 22 Zugehörige des Mafa Stammes aus Kamerun. Eine Bedingung zur Teilnahme am Experiment war die, dass keiner der Teilnehmer die jeweils andere Musik der Gegengruppe gehört hat. Es wurden also nur Deutsche ausgewählt, die noch nie eine Hörerfahrung mit der Musik des Mafa Stamms gemacht haben. Deutlich schwieriger ist es, Menschen zu finden, die überhaupt keine Erfahrung mit westlicher Musik haben. Durch die Globalisierung ist westliche Musik kaum zu entgehen, da Film, Fernsehen, Radio und das Internet auf diese Musik zurückgreifen. Die Mitglieder des Mafa Stamms sind eine der wenigen Menschengruppen, die keinerlei Vorerfahrung mit westlicher Musik machen konnten, da sie einen isoliert in Bergregionen leben und einen traditionellen Lebensstil pflegen (z.B. haben sie keinen Strom). Zusätzlich wurde Wert darauf gelegt, dass keiner der afrikanischen Probanden in einer Kirche war, da man dort oft auch westlicher Musik ausgesetzt ist.

1.1.1. Experiment 1

Beim ersten Experiment sollten die drei Grundemotionen „glücklich“,„traurig“ und „ängstlich“ in der Musik erkannt werden. Hier konnte nur westliche Musik einbezogen werden, da die Mitglieder des Mafa Stamms ihrer traditionellen Flötenmusik keine Emotionen zuweisen, sondern diese nur mit bestimmten Ritualen in Verbindung bringen.

Abbildung 1:

Die Ergebnisse des ersten Experiments (Abbildung 1) zeigen, dass beide Versuchsgruppen alle Emotionen in der vorgespielten Musik erkennen konnten. Anzumerken ist, dass die deutschen Zuhörer die Emotionen viel genauer der Musik zuordneten, als es die Mafa taten. Ein möglicher Grund dafür, könnte die Technik sein, welche die Mafa verwirrt und beeinflusst haben könnte, da keiner der afrikanischen Probanden vorher jemals in Kontakt mit Kopfhörern oder aufgenommener Musik von CD-Spielern gekommen war.

1.1.2. Experiment 2

Dass ein Zuhörer eine bestimmte Emotion in der Musik erkennen kann, heißt jedoch nicht, dass er diese Emotion auch so erlebt.

Um dieser These nachzugehen, sollten die Versuchspersonen beim zweiten Experiment die ihnen vorgespielte Musik auf einer Skala von „sehr unangenehm“ bis „sehr angenehm“ bewerten. Um zu erforschen, welche Auswirkung auf die Wahrnehmung von Musik besteht, wenn die Tonspuren manipuliert werden, wurden vier Versionen eines Stückes vorgespielt:

die originale Tonspur, die Tonspur mit zusätzlichen Dissonanzen, die Tonspur rückwärts, die Tonspur rückwärts und mit zusätzlichen Dissonanzen.

Abbildung 2:

Die Ergebnisse, die in Abbildung 2 dargestellt sind, zeigen dass für beiden Gruppen die originale Tonspur am angenehmsten zu hören war. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Diskrepanz zwischen „angenehm“ und „unangenehm“ bei den westlichen Zuhörern viel deutlicher zum Vorschein kam, als es bei den Zuhörern des Mafa Stamms der Fall war. Studien zeigen, dass westliche Hörer konsonante Musik der dissonanten deutlich vorziehen, sodass diese Diskrepanz deutlich wird. Bei den Mafa hingegen, könnten die zusätzlichen Dissonanzen in den Tonbeispielen auch für zusätzliche Musiker stehen, was mit einer imposanteren Aufführung assoziiert wird, sodass hier der Unterschied der Bewertung nicht so extrem ausfällt.

Die rückwärts abgespielte Tonspur hingegen, hatte bei beiden Zuhörern die gleiche Tendenz. Beide Gruppen bevorzugten die normal abgespielte Musik der rückwärts abgespielten. Dies könnte sich dadurch erklären lassen, dass Klänge in der Natur ebenfalls(auch Sprache) einen schnellen Anschlag und ein langes Ausklingen haben und es nicht, wie bei der rückwärts abgespielten Musik, umgekehrt ist. Es wurde also auf eine Unnatürlichkeit mit unangenehmen Gefühlen reagiert.

1.2. „A Cross-Cultural Investigation of the Perception of Emotion in Music: Psychophysical and Cultural Cues“

Laura-Lee Balkwill und William Forde Thompson wollten zunächst in ihrer Studie  zeigen, dass Menschen Emotionen in Musik mit fremden Tonsystemen erkennen können. Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob Menschen von psychophysischen Parametern Gebrauch machen, um ebenjene Emotionen zu erkennen.

1.2.1. Psychophysische Dimensionen der Musik

Dass der Einfluss von Kultur auf die Einschätzung von Emotionen in der Musik evident ist, ist nicht bestreitbar. Balkwill und Thompson stellten die These auf, dass es zusätzlich auch universelle Einflüsse gibt, die die musikalisch ausgedrückten Emotionen unterstreichen. Diese psychophysischen Dimensionen definierten die beiden Autoren als Eigenschaften der Musik, die unabhängig von Erfahrung, Wissen oder Kultur erkannt werden können. Tempo und Lautstärke zum Beispiel sind psychophysische Parameter, eine perfekte Kadenz hingegen nicht, da es funktionsharmonisches Wissen und Erfahrung braucht, um die Kadenz als solche zu erkennen.

Die Abbildung 3 fasst das Modell der psychophysischen Dimensionen gut zusammen:

Jedes Tonsystem (gleichzusetzen mit Musikkultur) hat ihre eigenen Anzeichen zur Wahrnehmung einer bestimmten Emotion, die womöglich keine Gemeinsamkeiten mit den Anzeichen fremder Tonsysteme (Musikkulturen) haben. Die psychophysischen Anzeichen allerdings, sind in allen Kulturen vorhanden, sodass eine kulturübergreifende Erkennung von in Musik ausgedrückter Emotion vereinfacht wird.

Abbildung 3

 

1.2.2. Experiment

In diesem Experiment, sollte untersucht werden, inwieweit westlich erzogene Musikhörer Emotionen in nordindischer Musik erkennen können. Ein wichtiges Merkmal der klassischen nordindischen (hindustanischen) Musik sind die Ragas, welche die melodische Grundstruktur und die Klangpersönlichkeit des Stückes ausmachen. Jede Raga steht für ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Stimmung, sodass sich diese Musik sehr gut eignet, um das Wahrnehmen von Emotionen zu untersuchen.

15 Männer und 15 Frauen aus Kanada sollten jeweils 12 nacheinander vorgespielte Ragas den Emotionen „Freude“, „Trauer“, „Wut“ und „Ruhe“ zuordnen.  Danach sollte die Stärke der jeweiligen Emotionen auf einer Skala von 1 (Emotion wurde überhaupt nicht vermittelt) bis 9 (Emotion wurde sehr stark vermittelt) eingeschätzt werden.

Als Letztes sollte das Vorherrschen der psychophysischen Parameter Tempo, melodische Komplexität, rhythmische Komplexität, und Tonumfang in den jeweiligen Tons puren ebenfalls auf einer Skala von 1 bis 9 festgehalten werden.

Abbildung 4

Die Ergebnisse in Abbildung 4 zeigen, dass die Emotionen Freude und Trauer am besten erkannt wurden. Die Erkennung der Emotionen Wut und Ruhe waren allerdings nicht so deutlich. Ragas mit der Stimmung Ruhe wurden oft als Trauer interpretiert und Wut oft als Freude verstanden. Allgemein ist festzuhalten, dass die beabsichtigten Emotionen in der hindustanischen Musik von westlichen Zuhörern tendenziell erkannt werden können.

Im Hinblick auf die beruhigende Wirkung der geplanten Soundscape im UKE auf den Patienten im Wartezimmer, wäre es wünschenswert gewesen, dass ebendiese Ruhe eindeutig erkannt werden kann.

Der nächste Schritt der Auswertung des Experiments betrifft die Zusammenhänge von erkannten Emotionen und den Grad psychophysischer Parameter:

Die Emotion Freude wurde assoziiert, wenn das Stück in einem mittleren Tempo gespielt wurde und eine mittlere melodische Komplexität enthielt.

Trauer hingegen wurde mit Parametern wie langsames Tempo, hohe rhythmische Komplexität, hohe melodische Komplexität und großem Tonumfang verbunden.

Keine der bewerteten psychophysischen Parameter korrelierte eindeutig mit der Emotion Wut, außer der Klangfarbe der gespielten Instrumente (6 Ragas wurden auf einer Bansuri Flöte gespielt und 6 weitere auf indischen Zupfinstrumenten. Letzteres wurde oft mit Wut in Verbindung gebracht).

Obwohl westliche Hörer nicht zuverlässig die Emotion Ruhe in Verbindung bringen konnten, scheint es als seien die Parameter Klangfarbe (Bansuri Flöte) und einfache Rhythmen als ein Hinweis auf eine ruhige Stimmung zu verstehen. Diese beiden psychophysischen Hinweise  waren dem westlichen Hörer jedoch nicht genug um eine zuverlässige Erkennung der Emotion zu gewährleisten.  Oft wurde die beabsichtigte Ruhe in der Musik als Trauer gedeutet.

2. Auswertung

Die beiden oben vorgestellten Studien zeigen, dass Menschen beabsichtigte Emotionen in völlig fremder Musik erkennen und benennen können. Dies bedeutet, dass der Ausdruck von Emotionen, übertragen durch die Musik, universell erkannt werden kann. Hierzu finden sich Ähnlichkeiten zur größtenteils universellen Erkennung von  Gefühlen im Gesichtsausdruck und in der Prosodie.

Die Ergebnisse der Studien zeigen jedoch auch, dass die Erkennung von Gefühlen in fremder Musik immer tendenziell richtig war, aber nie völlig offensichtlich. In der zweiten Studie ordneten die westlichen Zuhörer die Emotion Freude der richtigen Raga zwar zu, doch auf einer Bewertung von 1 bis 9 betrug die durchschnittliche Bewertung nur 5,61. Ähnlich verhielt es sich mit dem Experiment, bei dem Mafa Emotionen in westlicher Musik erkennen sollten. Darüber hinaus konnten die Gefühle Wut und Trauer (Studie 2) nicht eindeutig erkannt werden.

Zusammenhänge zwischen psychophysischen Dimensionen in der Musik und der Emotionserkennung konnten auch belegt werden, jedoch wiederum nur für die Gefühle Freude und Trauer.

Obwohl die Studien beide sehr interessant und eindrücklich sind, möchte ich dennoch auf einige Schwierigkeiten hinweisen.

Die Untersuchung von fremder Musikkultur und der Musikwahrnehmung von Mitgliedern fremder Kulturen, bringt automatisch den Konflikt mit sich, dass man auf andere Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Lebenskonzepte und Perspektiven stößt. Der Mafa Stamm dokumentiert oder verfolgt das genaue Alter der eigenen Mitglieder nicht, sodass Schätzungen gemacht werden mussten. Dies führt zu Ungenauigkeiten in der Forschung. Weiterhin könnte die noch nie vorher gesehene Technik, wie Kopfhörer das Bewertungsbild deutlich beeinflusst haben.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Mafa Stamm Musik nur in Verbindung mit Ritualen und nicht mit Emotionen setzt (es gibt kein Wort für „Musik“ in der Stammessprache). Dies widerlegt die Annahme, dass Musik die universelle Sprache von Emotionen ist und bringt somit die ganze Studie ins Wanken. Wie soll man die Wahrnehmung von Emotionen in fremder Musik vergleichen, wenn eine Versuchsgruppe keine deutliche Verbindung von Klängen und Gefühlen sieht?

Im Allgemeinen wird eine solche Forschung immer schwieriger durchzuführen sein, da Volksgruppen ohne westlichen Einfluss immer weniger werden und  durch die Globalisierung die musikkulturellen Einflüsse in verschiedenen Ländern immer ähnlicher werden.

Literatur

Balkwill, Laura-Lee, and William Forde Thompson. „A Cross-Cultural Investigation of the Perception of Emotion in Music: Psychophysical and Cultural Cues.“ Music Perception: An Interdisciplinary Journal 17.1 (1999): S.43-64

Cazden, N. (1945). Musical Consonance and Dissonance: A Cultural Criterion. The Journal of Aesthetics and Art Criticism 4, S.3-11.

Ekman, P., Sorenson, E.R., and Friesen, W.V. (1969). Pan-Cultural Elements in Facial Displays of Emotion. Science 4, S. 86–88

Fritz, Thomas, et al. „Universal Recognition of Three Basic Emotions in Music.“Current Biology 19.7 (2009): S.573-576

—>  Der Anhang dieser Studie mit zusätzlichen Informationen, Erklärungen und Hörbeispielen ist auf dieser Webseite zu finden:

http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982209008136

Kameoka, A., and Kuriyagawa, M. (1969). Consonance theory, part I: Consonance of Dyads. Journal of the Acoustical Society of America 45, S.1451-1459.

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Sethares, W.A. (1993). Local consonance and the relationship between timbre and scale. Journal of the Acoustical Society of America 94, S.1218-1228.

Terhardt, E. (1984). The concept of musical consonance: A link between music and psychoacoustics. Music Perception 1, S.276-295.